Milei gewinnt in Argentinien – was gewinnt Argentinien?

Eine Analyse.

Für die deutsche Presselandschaft ist Javier Milei, frisch gewählter Präsident von Argentinien, vieles. Vom „Fernsehclown“ (FAZ), über „Anarchokapitalist“ (ZDF) bis hin zum „Rechtspopulist“ (ZEIT). Und eines ist Javier Milei sicher: Nicht Teil der etablierten Parteien, die sich die Macht in Argentinien lange teilten. Dazu ein kurzer historischer Überblick: Von der Zeit ab 1880 bis 1940 war Argentinien vor allem geprägt durch Einwanderungswellen und häufigen Wechseln in den Regierungen. In manchen Zeiten kann nur von einer Scheindemokratie gesprochen werden, da Wahlbetrug ein oft genutztes Mittel war. Erst 1940 konnte ein junger Offizier sich in Stellung bringen: Juan Domingo Perón, dessen Frau Eva Perón noch heute Kultstatus hat. Perón, zuerst Minister in einem Militärregime, gewann schnelle die Herzen der Gewerkschaften und avancierte zum Helden der Arbeiter. 1946 wurde er zum Präsidenten gewählt. Wichtig im Verständnis der argentinischen Politik: Das Parteiensystem ist dort nicht vergleichbar mit dem deutschen System. Perón selbst, aber auch alle, die im Namen des “Peronismus“ später Politik machten, waren nicht links oder sozialdemokratisch, sondern nutzten häufig linke Politik aus, um ihre Macht zu festigen. So war es Perón selbst, der mit faschistischen Ansichten liebäugelte und den fliehenden Nazis Schutz und Heimat bot. Durch seine Fokussierung auf Industriepolitik und Sozialpolitik erreiche Argentinien in dieser Zeit einen Boom, von dem es bis heute noch träumt. Weiterhin im kollektiven Gedächtnis des Landes bleibt die faschistische Diktatur von 1976 bis 1983, in der vor allem Regimegegner entführt, gefoltert und ermordet wurden. Ähnlich wie in Ostdeutschland kam es auch im Nachgang der Diktatur zu einer erhöhten Skepsis der Bevölkerung gegenüber dem Staat. Der erste gewählte Präsident nach der Diktatur war ein Konservativer, trat nach einer Wirtschaftskrise zurück und wurde von einem Peronisten ersetzt. Ziemlich vereinfacht kann man danach nur sagen: Den Verfall der Wirtschaft konnte keine der beiden Parteien aufhalten, auch wenn sie sich im Präsidentenamt abwechselten.


Der Status Quo vor der Wahl ist also eine massive Wirtschaftskrise, eine Finanzkrise und eine Schuldenkrise auf einmal; so liegt die Inflationsrate im Oktober 2023 im Vergleich zum, Vorjahresmonat, also 2022, bei 142,7%. Massive Proteste begleiten das Land schon seit Monaten, sodass der amtierende Präsident, der Peronist Alberto Fernández, keine Chance auf eine Wiederwahl hatte. 

In Argentinien gibt es vor den eigentlichen Wahlen die Vorwahlen, in denen ein erster Stimmungstest gemacht wird und die Spitzenkandidaten festgestellt werden.  Dabei konnte Javier Milei von seiner gegründeten Partei „La Libertad Avanza“, der keinen parteiinternen Gegenkandidaten hatte, überraschend das beste Ergebnis erreichen und 16 von 24 Provinzen gewinnen. Auf den zweiten Platz mit 28,3% kam die konservativ-liberale Oppositionspartei „Juntos por el Cambio“, bei der sich die ehemalige Sicherheitsministerin von Präsident Mauricio Macri, Patricia Bullrich, gegen den Bürgermeister von Buenos Aires durchsetze. Erst auf dem dritten Platz konnte sich die peronistische Partei „Unión por la Patria“ mit 27,3% einfinden, hierbei schlug der wirtschaftsliberale Wirtschaftsminister Sergio Massa den parteiinternen Herausforderer und Linksperonist Juan Grabois. 

Daran lassen sich nun zwei Dinge feststellen: Zum einen wäre so oder so ein wirtschaftsliberaler Kandidat Präsident geworden, auch wenn sich die Forderungen von Massa bis Milei sehr stark unterscheiden. Und zum Zweiten ist Milei hier der Störfaktor für die Konservativen. Bullrich, die selbst mit der Konkurrenz von Milei an Massa vorbeizieht, hätte ohne das Antreten von Milei wohl einen Erdrutschsieg voraussagen können. So blieb sie in den Vorwahlen auf dem zweiten Platz, aber auch noch mit allen Chancen. 

Diese waren allerdings mit dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen dahin. Der Peronist Massa gewann diesen mit 36,68% vor dem libertären Milei mit 29,98%. Die konservative Bullrich zog mit 23,83% nicht in die Stichwahl ein. Für diese gab es zwei Überlegungen: Würden die konservativ-liberalen Wähler der „Juntos por el Cambio“ den ideologisch näherstehenden Milei wählen, aber damit das traditionelle Parteiensystem sprengen, oder würde man sich für eine politischen Neuanfang entscheiden, deren Auswirkungen heute niemand voraussehen kann. Offensichtlich entschieden die Wähler sich für Zweiteres. Mit 55,7% gewann Milei gegen Massa, der nur auf 44,3% kam – ein überraschend großer Vorsprung. Vorher kursierten im Internet bereits Videos von Fans, die Milei wie einen Heilsbringer verehrten, mit teilweise absurdem Gebaren, welches in Deutschland nicht mehr möglich wäre. Auch stieg die Inflation von Oktober auf November nochmals um ca. 8%. Die überwiegende Meinung schien zu sein, dass die Rezepte der traditionellen Parteien nicht ausreichen würden, die Probleme im Land zu lösen. Der charismatische, aber sehr unkonventionelle Milei konnte die Stimmung perfekt aufsaugen und zu seinem Vorteil nutzen. 

Wie geht es nun weiter? Das wird sich zeigen. Denn tatsächlich muss man eine weitere Wahl beachten: die Parlamentswahl für das Unter- und Oberhaus. Im Unterhaus, das sich noch konstituieren muss und in dem Abgeordneten der Parteien sitzen, kommen die Peronisten mit 10 verlorenen Mandaten auf nur 108 Sitze und schrammen damit mit einem Sitz an der relativen Mehrheit von 109 Sitzen vorbei. Die Liberal-Konservativen stürzen um 25 Mandate auf nur noch 93 Sitze ab. Zusammen mit den Libertären kommen sie dennoch über die relative Mehrheit, die insgesamt 37 Sitze erringen konnten. Und sie kommen sogar knapp auf eine absolute Mehrheit von 129 Sitzen, wobei dann beide Fraktionen geschlossen abstimmen müssten. Ob das passiert, ist noch nicht klar. Immerhin posierte der Wahlkampfleiter von Bullrich von den Liberal-Konservativen auf seinen Social-Media-Kanälen auf Bildern bei der Feier zum Wahlabend von Javier Milei – anscheinend sind hier die Wege kurz. 

Im Oberhaus, dem Senat, ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Peronisten konnten die relative Mehrheit, die bei 32 Sitzen liegt, mit 34 Sitzen behalten und damit sogar zwei Sitze dazugewinnen. Die Liberal-Konservativen verlieren hingegen 9 Sitze, die Libertären gewinnen 8 Sitze, wobei sie vorher gar keinen hatten. Damit kommt auch eine Koalition der letzten beiden auf eine relative Mehrheit. Um auf eine absolute Mehrheit von 37 Sitzen zu kommen, müssten die kleinen Parteien beziehungsweise die Unabhängigen gewonnen werden. Eine schwierige Situation für das Land, das zum ersten Mal mit drei starken Parteien in den politischen Gremien umgehen muss. 

Milei hatte im Wahlkampf angekündigt, die Zentralbank, das Bildungsministerium und das Gesundheitsministerium abzuschaffen. Dafür hat er keine Mehrheit und die Liberal-Konservative Partei wird sich wohl darauf nicht einlassen. Gleichzeitig will er Drogen legalisieren, den Organhandel freigeben, ebenso den Waffenbesitz und die gleichgeschlechtliche Ehe. Vieles davon wird mit den Konservativ-Liberalen nicht zu machen sein. Stärkerer Kontrollen bei der Einwanderung und ein Abtreibungsverbot hingegen schon. Weil Milei den Klimawandel leugnet und über eine „Lüge des Sozialismus“ spricht, wird eine Zusammenarbeit mit den gewerkschaftsnahen Peronisten wohl keine Option sein. Und damit ist Milei auch nicht mit Trump und Bolsonaro vergleichbar. Beide haben mehr Machtmittel als Milei aktuell, beide sind in vielen Forderungen offen rechts und klar konservativ – und bedienen damit eine klare Wählerschicht. Milei hingegen ist ein Protestkandidat, der seiner Person wegen gewählt wurde, aber selbst keine Basis für seine Forderungen hat. Sollte er es schaffen, die Wirtschaftskrise zu beenden und wieder weiten Teilen Wohlstand zu bringen, werden ihm seine Marotten verziehen werden und ihm Änderungen zugestanden werden. Sollte er das nicht schaffen, wird es wohl für lange Zeit das letzte Experiment im lateinamerikanischen Raum dieser Art sein.   

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